Version allemande du texte paru sur Le Temps le samedi 22 octobre
Kaum haben die Grünen die Initiative „Für einen geordneten Ausstieg aus der Atomenergie“ lanciert, strotzt es in der medialen Diskussion bereits wieder vor Unwahrheiten! Hervorgehoben wird, dass bei einem angeblich „überhasteten Ausstieg“ die Bevölkerung „kolossale Schadenersatzkosten“ im Umfang von mehreren Millionen an die Kraftwerkbetreiber zahlen müssten. Dabei wird verschwiegen, dass diese gleiche Bevölkerung aktuell alle Risiken trägt und die weit höheren Aufwände für den Rückbau vollumfänglich wird berappen müssen – ganz zu schweigen von den äusserst langfristig anfallenden Entsorgungskosten.
Wie hoch sind die Rückbaukosten?
Die europäische Kommission nannte Anfangs 2016 Kosten von 250 Milliarden Euro, um die aktuell betriebenen 123 Reaktoren abzuschalten. Der Finanzhof unseres, notabene notorisch pro-nuklearen Nachbarstaates Frankreich hat den Rückbau für die eigenen Anlagen soeben auf 100 Milliarden beziffert. Soweit die aktuellsten Zahlen. Die das ungute Gefühl hinterlassen, dass da noch mehr nachkommt – mussten die Zahlen doch nach jeder Analyse massiv nach oben korrigiert werden. Das Bundesamt hat bis Ende Jahr Zeit, vergleichbare Zahlen für die Schweiz zu errechnen. Neutrale Experten befürchten das Schlimmste – dies obwohl die Finanzaufsicht bereits bei der letzten Revision im 2011 eine Erhöhung von 30% einfordern musste.
Die Branche tanzt(e) uns auf der Nase herum!
Diese harte Realität müssen auch die AKW Befürworter anerkennen. Deshalb versuchen sie – ganz nach altem Muster – den Betrieb zu verlängern, indem sie anführen, man müsse die Reaktoren noch einige Jahre länger laufen lassen, um die bisher ungenügenden Reserven aufzustocken.
Die Bürgerinnen und Bürger werden die reell anfallenden Kosten übernehmen müssen. Dabei ist ganz egal wie man sie nennt, ob „Schadenersatz für die vorzeitige Schliessung“ oder „Ausgleich der ungenügenden Deckung der Rückbau und Entsorgungskosten“. Über Jahre wurde Strom viel zu billig verkauft, indem keine Gebühr für die Entsorgung erhoben wurde. Das Prinzip „je grösser die Anlage, desto besser“ war also nichts als eine sehr erfolgreiche Lüge. Und vielleicht klappt es ja ein weiteres Mal, voller Überzeugung wider besseres Wissen zu argumentieren.
Bis repetita!
Diesmal hat man sich für die Strategie entschieden, die Diskussion möglichst so zu steuern, dass in Vergessenheit gerät, dass die AKW aktuell mit Verlust produzieren – egal ob man den billigen Preis ohne Entsorgungsgebühr annimmt oder eine Vollkostenrechnung anstellt. Je länger die AKW produzieren, desto höher wird das Loch, das sie in unser Budget reissen!
Ein Reaktorunfall? Eine Million Personen wären umzusiedeln
Bei einem Reaktorunfall im Schweizer Mittelland müsste 1 Mio Menschen umgesiedelt werden. Die Schadenhöhe wird auf zehn Jahre BIP beziffert. Dies käme für die Schweiz einem Konkurs gleich. Im Bestreben, Atomstrom trotzdem weiterhin als „sicher“ zu verkaufen, wird ab sofort mehr für die Wartung der AKW investiert, was dessen Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich schwächt. Während die Kurve des Ökostroms genau umgekehrt verläuft.
Warum die Vehemenz?
Um zu verstehen, warum man sich so vehement für diesen Kadaver wehrt, muss man sich die Bilanzen der Betreiber genauer anschauen. Viele von ihnen führen noch immer hohe Beträge unter den Aktiven, obwohl sie Reserven hätten anlegen sollen, um den äusserst langfristigen Forderungen nachkommen zu können. Fazit: Ein Atomkraftwerk ist kein Vermögenswert, sondern in Tat und Wahrheit auf sehr, sehr lange Zeit eine Belastung. Die frühzeitige Unterbindung des AKW Mühleberg im Anschluss an eine Kostenexplosion der Wartungskosten zeigt dies auf eklatante Weise.
Sogar wer die Risiken aus den Augen lässt, die die nächste und viele weitere Generationen werden tragen müssen, muss einsehen, dass mit jedem zusätzlichen Betriebsjahr die Rechnung höher ausfällt, die die Einwohner dieses Landes tragen müssen. Diesem Spuk jetzt in geordneter Art und Weise ein Ende zu setzen, hat nichts mit Träumen von Wollsocken-Idealisten zu tun, sondern einzig mit gesundem Finanzmanagement.
Laurent-David JOSPIN
Ursprungliche Artikel auf französisch : https://www.letemps.ch/opinions/2016/10/21/sus-aux-centrales-nucleaires-obsoletes
Herzlichen Dank an Fabienne E. für die Übersetzung